Von Otto Kammer erhielt ich die Anfrage bzw. Anregung, für den nächsten Hohensolmser Brief, der auch "Erinnerungen an Friederike Genähr" enthalten soll, einen Artikel aus der Familie Genähr beizusteuern.
Von den 25 Nichten und Neffen unserer Tante Rikele habe ich 12 angeschrieben, die von ihrem Alter her unsere Tante noch erlebt haben konnten. Ich bat sie: "Könnt Ihr mir in ein, zwei Sätzen Eure ganz persönliche Erinnerung an Tante Rikele aufschreiben?" Mit "...ein, zwei Sätzen..." wollte ich nur eine Redewendung benutzen, wohl wissend, daß man sich an Tante Rikele nicht nur mal schnell mit wirklich nur ein, zwei Sätzen erinnern kann. So begannen alle Antworten mit ähnlichen Sätzen wie diesen: "Lieber Uli, gern wollen wir es wenigstens versuchen, Deine Bitte wegen eines kurzen Beitrags für einen Artikel zum Gedenken an Friederike Genähr zu erfüllen. 'In ein, zwei Sätzen', wie Du schreibst, ist das nicht so einfach, wenn man dieses ihr Leben, 'ein Leben für andere', also auch für uns, in Erinnerung bringen soll."
Es gibt überall in der Familie noch Briefe von Tante Rikele, die, wie ich jetzt erfahren habe, auch heute noch immer wieder gern zur Hand genommen werden.
In einem Brief, den sie mir am 23. Februar 1954 geschrieben hat, stehen die Sätze: "Es ist sehr viel wert, wenn man überall zuerst das Schöne und Gute zu finden weiß. Zufriedenheit und Dankbarkeit sind Geschwister und wer beiden in sich Raum gibt, besitzt einen weit größeren Schatz, eine Hilfe in allen Lagen des Lebens, als sie der reichste Mann je haben kann."
Spätestens seit diesem Brief ist mir bewusst, daß ich zu "zwei Geschwistern" eine Beziehung habe, die besonders zu pflegen ist, ohne allerdings die Beziehungen zu den "leibhaftigen" Geschwistern zu vernachlässigen.
Das es auch für Tante Rikele "zwei Geschwister" waren, die in ihr Raum hatten, macht ein Abschnitt aus einem Brief vom 7. August 1951 an einen ihrer Brüder deutlich. Sie war zu dieser Zeit bei ihrem Bruder Siegfried in Kirchheim und erholte sich dort nach der Amputation eines Beines. Wir zogen am 10. August 1951 von Hohensolms nach Soest um, wo unser Vater eine Arbeitsstelle bei der Westfälischen Frauenhilfe bekommen hatte, und dazu heißt es in diesem Brief. "Wir können Gott nur immer wieder danken, dass er diese Sache so zum Ende und damit auch ganz gewiss zu einem guten Ende gebracht hat ... Ihr werdet verstehen, dass es mir auch wehmütig ums Herz ist. Von den 16 Jahren die ich in Hohensolms gelebt habe, haben Gretel und die großen Jungens 11 Jahre - mit kurzen Unterbrechungen - dies Leben mit mir geteilt in einer besonderen Weise. Die Kinder sind dort herangewachsen und waren mir wie die eigenen. ... Wie wird mir das Haus doch so leer vorkommen ohne sie! Und doch bin ich unendlich dankbar, dass es gerade dieser Platz ist, an den sie kommen. ... Vielleicht schreibst Du, lieber Ferdinand, ihnen auch bald einen Gruß. Sie werden gerade im Anfang sehr dankbar dafür sein."
Der letzte zitierte Satz soll verdeutlichen, wie sehr es auch Tante Rikeles Bemühen war, als älteste ihrer 11 lebenden Geschwister für den Zusammenhalt in der Familie zu sorgen.
Einige meiner Basen und Vettern lebten wie wir in den Kriegs- und Nachkriegsjahren in Hohensolms, teils getrennt von den Eltern und waren so auch Tante Rikeles Kinder. Meine Schwester Annette und mein Base Roswitha wurden in Hohensolms geboren. Aus eigener Erinnerung, und wie ich es jetzt aus den Antworten meiner Basen und Vettern auch entnehmen kann, weiß ich, daß wir Kinder in den Jahren unseres Zusammenlebens mit Tante Rikele in Hohensolins von ihr sehr geprägt wurden.
Auch unsere Großmutter spielte da für uns Kinder eine wichtige Rolle. Aus dem Brief meiner Base Christel zitiere ich: "Wir (Christel und Ruth) waren ja die Einzigen ohne Mutter und Geschwister und liefen so nebenbei mit. Das war nicht immer so leicht. Ohne, dass es uns bewußt war, war dann die Großmutter unser Ankerplatz. Ein ruhender Pol für alle, die sie gerne im Melanchtonzimmer besuchten." An anderer Stelle heißt es in diesem Brief: "Je länger ich über Tante Rikele nachdenke, komme ich zu dem Schluss: Tante Rikele war eine außergewöhnliche Frau, mit viel Organisationstalent. Eine sehr kluge, verantwortungsvolle, fürsorgliche, fleißige, bescheidene, liebenswerte und tief gläubige Frau."
Ein Vetter hat mir am Telefon gesagt. dass er Tante Rikele als gestrenge aber auch als überaus liebevolle Tante in Erinnerung hat. Das Organisationstalent von Tante Rikele kam damals vielen Menschen in der Burg zugute., so schreibt Ruth: "... war Tante Rikele doch umfassend für das Wohl und Wehe des ganzen Schlosses und seiner Bewohner verantwortlich. Besonders in der schweren Kriegszeit ohne unterstützende männliche Hilfe."
Und dass das Haus in dieser Zeit "... für viele heimatlose Menschen Zuflucht und Heimat wurde, lag an ihrer besonderen seelsorgerlichen Begabung und der Liebe, mit der sie jeden Menschen aufnahm", heißt es in einem Nachruf.
Dass wir alle diese Zeit in Hohensolms und in der Burg überstanden haben, ist das große Verdienst von Tante Rikele. Ein Zitat aus dem o. g. Nachruf: "Aber jeder Eingeweihte hat gewusst, dass die Mission von Hohensolms nicht möglich gewesen wäre ohne den kühnen Geist und das demütige Gottvertrauen der Frau, die 'ständig die Stellung zu halten' hatte, die nicht nur Gestapo-Beamten unerschrocken gegenüberstand, sondern die vor allem auch für die auf Hohensolms Versammelten eine entscheidende Hilfe bedeutete, da sie in schlichter Weise ein echtes Stück christlicher Nachfolge vorlebte." - Meine Base Ruth schreibt: "Als die Amerikaner nach Hohensolms kamen verlangten sie, das ganze Schloss zu räumen, zum eigenen Bedarf. Wo sollten die vielen Menschen hin, eine große Anspannung und Sorge für Tante Rikele. Englischkenntnisse waren zur damaligen Zeit nicht üblich. Wie sollte sie mit den Besatzern verhandeln? Da konnte ihr Onkel Theodor (der Mann unserer Tante Hanne) zur Seite stehen und erreichen, dass wir alle im Schloss bleiben könnten und nur die untere Etage räumen brauchten."
In fast allen Antwortschreiben wird auch immer wieder der große fürstliche Esstisch im Rittersaal erwähnt, der "von der stets knarrenden Holztreppe zu Pestalozzi, die ganze Wand entlang, bis zum Kamin" reichte. An diesem Tisch haben wir immer gegessen (und ich habe zum Ärger der Tanten oft das Salz vom Tisch stibitzt).
Wir alle erinnern uns, dass Tante Rikele morgens immer eine Andacht gehalten hat und von allen gemeinsam ein Lied gesungen wurde. Eines der Tischgebete von Tante Rikele hat mir Christel aufgeschrieben: "Das Brot, Herr, uns segne, das tägliche Brot, bewahr uns vor Zwietracht und bitterer Not, und gib auch den Armen in unserem Land das tägliche Brot, Herr, aus gütiger Hand."
Karl Balzer, der Mann meiner verstorbenen Base Lydia, schreibt: "Ja - in Hohensolms hockte die Genähr'sche Großfamilie - wir haben hier bei uns jetzt schon mal darüber gesprochen, wie das damals in dieser Notzeit alles geklappt hat. Wahrscheinlich hat Tante -Rikele die Hauptlast und Sorge zu tragen gehabt. Da waren so viele Mäuler, die alle satt werden sollten."
Wie das war, verrät uns ein Abschnitt aus einem Brief von Tante Rikele an ihre Nichte Amei vom 22. September 1948: "... nun haben wir nur wenige nette Gäste und können mit Inbrunst an das Einkellern von Obst und Gemüse und Kartoffeln gehen und das Einkochendes "Hoingk" - in das ist ein Latwerg, welcher im großen Waschkessel aus dem Saft der Zuckerrüben mit Zwetschgen, Äpfeln, Gelberüben und Kürbis gekocht wird. Im ganzen Dorf riecht es bereits nach dem berühmten Hoingk! Die Zuckerrüben haben wir selbst gezogen, die Gelberüben auch, sie sind dieses Jahr prachtvoll geraten und es gibt sehr viele. Überhaupt ist alles Gemüse ganz wunderbar geraten bis hin zum Blumenkohl, über den die Leute zuletzt nicht mehr Herr zu werden wußten. Vorallem aber ist der Obstsegen enorm. ... Es ist wirklich ein ganz reicher Gottessegen, für den die Leute wohl etwas dankbarer sein dürften. Aber sie haben weithin nur einen Gedanken: wie sie viel, viel Geld dafür bekommen können! Nun, wir bekommen trotzdem unser Teil, wenn ich auch immer wieder ganz entsetzt bin, wieviel Geld dafür aus dem Haus geht"
Geld ging ja nicht nur für Obst und Gemüse aus dem Haus, so manche Mark hat Tante Rikele auch zum Metzger nach Erda gebracht, und bei diesen Wanderungen durch die Felder nach Erda hat sie oft "ihre" Kinder mitgenommen, woran sich meine Base Iris gerne erinnert.
Einen Satz von Ruth kann ich mit allem Nachdruck übernehmen: "Um so dankbarer sind wir, dass wir trotz Kriegswirren und Not eine so wunderbare Kindheit in Hohensolms verbringen durften. Darum ist es auch wichtig, ihr Leben und ihre Arbeit mit einem gebührenden Platz in Hohensolms zu würdigen."
1941 haben sich meine Base Ursel und ihr Mann Siegfried in Hohensolms kennen gelernt im Dezember 2002 durften sie ihre Goldene Hochzeit feiern. Sie schreiben: "Für uns jedenfalls war Tante Rikele ganz einfach die ideale Tante. Sie konnte sich so sehr mit jungen Menschen freuen, vor allen auch mit ihren vielen Nichten und Neffen und zahlreichen (18 !?) Patenkindern. Es gab kein Thema, über das man sich nicht mit ihr austauschen konnte, eben auch über Glaubensfragen."
Zum Ende will ich noch einmal Tante Rikele zitieren aus ihrem Brief an mich vom 23. Februar 1954 - 134 Tage später, am 6. Juli 1954 wurde sie heinigerufen: "... wichtiger als alles andere ist das Eine, das not ist (Luk. 10, Ende): dass Du dem Herrn Jesus angehörst mit Leib und Seele und mit Deinem ganzen Leben. Diese ganz alleine wirklich froh- und freimachende Gewissheit, Sein Eigentum zu sein - um diese Gewissheit bitte ich Gott täglich für alle meine Neffen und Nichten und Patenkinder."
Ulrich Genähr